5 Uhr: Egon Bahr trickst Militärkommandanten aus

MDR INFO, 27.06.13

Bereits am 16. Juni 1953 war es insbesondere in Ost-Berlin zu Protesten gegen die 10-prozentige Normenerhöhung für die Bauarbeiter gekommen. Und die hatten für den 17. um sieben Uhr mitten auf Vorzeigebaustelle „Stalinallee“ zu einer Großkundgebung aufgerufen.

Es sind  ungewöhnliche Töne, die um 5 Uhr 36 das erste Mal über den us-amerikanischen Sender RIAS in West-Berlin ausgestrahlt werden.

Liebe Ost-Berliner Kolleginnen und Kollegen, der Deutsche Gewerkschaftsbund betrachtet seit Monaten mit Sorge die soziale Rückentwicklung, die sich bei euch vollzieht.

Ernst Scharnowski, Vorsitzender des West-Berliner DGB

Ernst Scharnowski ist Vorsitzender des West-Berliner DGB. Er begrüßt und bewundert die Proteste gegen die Erhöhung der Arbeitsnormen.

Was dann folgt, ist ein zunächst noch zurückhaltender, aber doch schon sehr offensiver  Streikaufruf an die Bauarbeiter.

Ihr könnt diese Forderungen, gestützt auf die in der sowjetischen Besatzungszone geltenden menschlichen Grundrechte der Verfassung, mit vollem Recht verlangen.

Ernst Scharnowski, Vorsitzender des West-Berliner DGB

Und dann folgt die klare Aufforderung des DGB-Vorsitzenden an alle Berliner.

Lasst sie nicht allein. Sie alle kämpfen nicht nur für die sozialen Rechte der Arbeitnehmer, sondern für die allgemeinen Menschrechte der gesamten Ost-Berliner und Ost-Zonalen Bevölkerung. Tretet darum der Bewegung der Ost-Berliner Bauarbeiter, BVGer und Eisenbahner bei und sucht eure Strausberger Plätze überall auf.

Ernst Scharnowski, Vorsitzender des West-Berliner DGB

Auf dem Strausberger Platz in Ost-Berlin soll in weniger als eineinhalb Stunden eine Massenkundgebung der Arbeiter von der Stalinallee stattfinden.

Dieser Streikaufruf war kein Zufall, sondern geplant von einem späteren westdeutschen Spitzen-Politiker: Egon Bahr war 1953 Chefredakteur beim RIAS. Sein Sender hatte bereits am Vortag zweimal  zum Streik aufgerufen, doch dann hatte das der US-Militärkommandant untersagt. Man dürfe sich nicht in den Osten einmischen. Bahr gefiel das überhaupt nicht, erzählt er aus heutiger Perspektive.

Ich habe den damaligen Vorsitzenden des DGB angerufen und gebeten ins Haus zu kommen, ihm die Lage erklärt und ihn gebeten, einen kleinen Kommentar der Sympathie für die Aufständischen zu sprechen und dabei auch zu erwähnen sein Verständnis dafür, dass die sich morgen am Strausberger Platz treffen.

Egon Bahr, damaliger Chefredakteur des RIAS

Und so geschah es: Diplomatisch geschickt verpackt sendete RIAS nun doch einen Streikaufruf.